Wo die armen Kerle wohnen

- oder was Kinder über Armut wissen

"Wir haben alle ganz ordentliche Wohnungen und wohnen auch gerne zu Hause."

Die kleine Sybille glaubt mir kein Wort und der siebenjährige Max ist empört:

"Und warum sind dann hier überall Briefkästen?"

Ich überlege einen Moment, ob ich ihnen erzählen soll, dass wir als Putins Agenten jeder unseren eigenen Toten Briefkasten haben. Doch durch mein Schweigen habe ich die Kinder gerade in ihren Zweifeln an meiner Aussage bestärkt.

Die Gruppen haben einen Tag im "Natur- und Ökologiepark" gebucht, dem Projekt eines privaten Bildungsträgers, in dem Langzeit-Arbeitslose eine Art Freizeitpark für Schulen und Ganztags-Einrichtungen anbieten.

"Ja was ist mit den Briefkästen?", will Sybille wissen, die seien doch wirklich überall, am Wetterpavillon, in der Heidelandschaft, am Grünen Klassenzimmer, im Bauerngarten, an der Recyclinghütte, sogar hier am Insektenhotel?

"Das ist so eine Art Schnitzeljagd zum Kennenlernen des Geländes, in einem Kasten ist ein Hinweis auf den nächsten und am Ende gibt es etwas zu gewinnen, ich schwöre es!"

Max öffnet zögernd den Briefkasten und zieht ein rätselhaftes Schriftstück heraus.

"Das ist ein Rätsel, wenn ich euch das mal erklären darf?" Ich darf nicht. Sybille ist immer noch empört:

"Ihr seid ganz arm und ihr wohnt hier! Alle Kinder wissen das!"

Ja klar und ich wohne im Insektenhotel, vielleicht als ein übrig gebliebener Münteferingscher Parasit? Mein Schweigen macht mich noch verdächtiger.

Die Gruppen sind in einer Art Stationsbetrieb unterwegs, ich muss mich beeilen, meine pädagogisch und spielerisch wertvollen Angebote auszubreiten, doch irgendwie ist heute der Wurm drin. Auch die nächste Gruppe hängt unbeirrbar der kindlichen Verschwörungstheorie an.

"Ihr wohnt hier!", sagt der schlaue Leonhard im Überzeugungston. Anscheinend hat sich bei ihnen die Vorstellung von Armut untrennbar mit Obdachlosigkeit und Hunger verbunden. Dabei sind die Kinder durchaus nett und freundlich, Erwachsene erzählen einem beim Thema Armut ohnehin immer nur "was vom Pferd". Jeder will zum Mittelstand gehören, bis ihm das Gegenteil bewiesen wird. Und die Briefkästen sind doch nun wirklich der Beweis!

"Und warum sind da keine Namen dran geschrieben?", frage ich verstockt.

Kein Problem: "Die Postfrau kennt die Namen auch so!" Wenn sich jemand im Leben auskennt, dann ist das die Postfrau. Die hat ja auch Beziehungen zu einer so zweifelhaften Gestalt wie dem Weihnachtsmann.

Doch auch bei Erwachsenen ist das Wissen über den "Natur- und Ökologiepark" völlig unterentwickelt: Wenn die wirklich unbeholfene Abteilung Öffentlichkeitsarbeit des Jobcenters mal etwas darüber verlautbaren lässt, bekommt sie sofort jede Menge Ärger mit IHK und FDP, die meinen, ihren tollen naiven Kleinunternehmern würde dadurch etwas weggenommen.

Auf der anderen Seite gibt es andere "Vermittlungshemmnisse": erfahrene Kritiker der marktradikalen Armutsindustrie mögen nicht plötzlich etwas am "Joopcenter" loben, auch wenn dies durchaus lobenswert ist. In der voll besetzten "Maßnahme" ist man hoch motiviert und engagiert, es gibt kaum Fehlzeiten - überhaupt keine unentschuldigten Fehlzeiten, Urlaub wird nur zögerlich genommen, man könnte ja etwas verpassen usw.

 

Erklärbar ist das Verhalten der Kinder schon, sie sind auch sehr rücksichtsvoll, wollen mir meinen Stolz lassen. Doch was fange ich an mit meinem neuen Bildungsauftrag: erkläre den Unterschied zwischen Einkommens-Armut und absoluter Armut?

Mir glaubt hier ohnehin niemand mehr etwas, bis ich zugebe, dass ich im Insektenhotel wohne.

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