Timo und Miltiades

Diese Geschichte beginnt mit einem Sonnenaufgang: Prächtig erhob sich die Sonne über den Horizont der antiken Ägäis des Jahres 489 v. Chr., ihre ersten Strahlen hüllten Meer und Inseln in ein zartes Licht. Sie erreichten auch einen Hühnerhof auf der Insel Paros, was den Hahn weckte. Schlaftrunken schüttelte er sich, blinzelte ins Licht und schickte seinen ersten Morgenruf über das ländliche Anwesen.
Das Krähen hörte die Priesterin Timo im nahe gelegenen Demeter-Tempel. Tief im Inneren des düsteren und verwinkelten Baus hatten die Dienerinnen der unterirdischen Gottheiten ihre winzigen Zellen. Timo streckte sich und schob das Leinentuch beiseite, erhob sich und tappte zur Tür. Sie entriegelte die rohe Holztür, ging hinaus in den Wirtschaftshof, wo sie sich Gesicht und Oberkörper wusch. Dann kämmte sie sich und zog ihre Sandalen an. Beim Anlegen des tiefdunkelblauen Gewandes hätte sie Hilfe gebrauchen können, doch ihre einzige Kollegin Ayumene war gestern zu einer Feierlichkeit im benachbarten Aphrodite-Tempel eingeladen gewesen, eine anstrengende Angelegenheit, die anscheinend noch andauerte.
Timo mußte sich beeilen, denn die ersten Gläubigen würden bald eintreffen. Um diese Zeit kamen zumeist Seeleute, die sich vor dem Auslaufen ihrer Schiffe des Beistandes der erdverbundenen Göttinnen versichern wollten. Die Priesterin betrachtete sich in einem fleckigen Metallspiegel, ordnete ihre Haare und zupfte die Gewandfalten zurecht. Dann eilte sie über Gänge und Innenhöfe zum Haupttor des Tempels, das nur durch einen halbhohen Zaun aus Bronzeguss verschlossen war, der weidendes Vieh vom Tempelinneren fernhalten sollte. Menschen würden es ohnehin nicht wagen, das schön gearbeitete Bronzegitter zu übersteigen. Timo öffnete mit einem kleinen Schlüssel die schmale Tür des Zauns und ließ sie offen stehen. Dann schweifte ihr Blick über den Hafen und die kantigen Häuser des Hauptortes, die sich eng um die markante Silhouette des Aphrodite-Tempels auf dem Hügel drängten.
Und da kamen auch schon die Gläubigen, drei bärtige Seeleute strebten raschen Schrittes vom Hafen auf den alten Demeter-Tempel zu, der seine düsteren Mauern im Tal zwischen Hauptort und ländlicher Siedlung ausbreitete. Timo verneigte sich andeutungsweise und geleitete die Seeleute in den Vorhof des Tempels. Die drei kräftigen Männer kannten sich aus und hatten auch keine Zeit zu verschenken. Sie stellten sich unterhalb der Treppe zur großen Tempelhalle in Positur und begannen, ihre Gebete zu murmeln.
Seefahrer schworen oft in Gefahrensituationen, sich bei glücklichem Ausgang ihres Abenteuers selbst im Heiligtum der Erde auf Paros zu geißeln. Auch diese hier erinnerten sich nun in der Verzagtheit des frühen Morgens an vergangene Schwüre und verlangten nach den geweihten Geißelpeitschen. Doch letztere waren in schlechtem Zustand, ungereinigt und trocken lagen sie auf dem Steinboden herum. Rasch sammelte Timo die Peitschen auf und legte sie in einer Nische in das dafür vorgesehene Wasserbecken. Die Zeit drängte, Timo reinigte notdürftig eine Peitsche, trocknete sie mit einem Leinenlappen ab und brachte sie einem der Seeleute. Aber auch die beiden anderen wollten Peitschen, Timo erfüllte ihre Wünsche und reinigte dann noch eine Ersatzpeitsche.
Wenn sich während des Gebrauchs Lederstreifen von der Peitsche lösten, galt das als unglücklichen Vorzeichen. Timo hielt das für Aberglauben, schließlich ging es hier nicht um bloßen Zufall, sondern um die innere Einstellung beim Umgang mit alltäglichen Gefahren und dabei konnte ein höheres Wesen durchaus hilfreich sein.
Nun hatte sich doch ein Lederstreifen von einer Peitsche gelöst. Der dicke Seemann hielt ihr vorwurfsvoll das defekte Werkzeug hin, Unglück - sagte sein Blick. Timo gab ihm rasch die Ersatzpeitsche, Unglück - sagte auch ihr Blick - aber nicht den ganzen Tag, denn ich war rasch genug zur Stelle. Timo holte eine weitere Ersatzpeitsche und murmelte: »Dann müßt ihr nicht prügeln wie die Folterknechte, dies hier ist schließlich nur eine symbolische Bestrafung derjenigen, die es wagen, den festen Mutterboden zu verlassen.«
Die Seeleute beendeten ihre schmerzhafte Zeremonie und gaben eine angemessene Geldspende. Timo führte die Gläubigen hinaus und segnete sie zum Abschied. Auf dem Herd im Wirtschaftshof kochte sie sich eine einsame Morgensuppe. Dann sortierte sie die Peitschen, fünf davon waren reparaturbedürftig. Wenn sie sich beeilte, würde sie Kyriaki, den Sattlermeister noch antreffen, bevor der zu einer seiner häufigen Touren über die Dörfer aufbrach. Die Priesterin rollte die fünf Peitschen zusammen und verließ den Tempel. Das Bronzegitter schloß sie ab und versteckte den Schlüssel unter einem Stein.
Draußen wimmelte es plötzlich von Bewaffneten. Timo erinnerte sich daran, dass die Athener seit Wochen mit etlichen Schiffen im Hafen lagen und mit dem Inselrat über Strafzahlungen für die Teilnahme oder Nichtteilnahme an irgendwelchen Kriegszügen verhandelten ...