Sonntagsland

Die Geschichte begann in einer Hauptstraße. Auf einer der hinteren Sitzbänke eines Busses saßen ein Mädchen und ihr Freund. Ein aufmerksamer Beobachter hätte Glanz in den Augen des Mädchens wahrnehmen können. Sie sah Schornsteine über den Bäumen und stellte Betrachtungen über Quark-Sahne-Torte und ihren Freund an. Für eine Woche war Ulrike ihrer Arbeit entkommen, fuhr zu einer Schulung der Naturschutzgesellschaft. Im Schein der Morgensonne unterschied sich das Braun ihrer Haare kaum von der Farbe des Herbstlaubes. Ihr Freund auf dem Fensterplatz war dunkelblond, ein wenig übergewichtig und hielt die Augen geschlossen. Er hieß Tilo.
Auf dem Busbahnhof der Bezirksstadt lud er ihr den Rucksack auf, küsste sie flüchtig auf die Stirn und sah ihr nach, bis sie im Bahnhofseingang verschwunden war. Dann stieg er um in die Straßenbahn. Das Werk, das er nach einer Stunde erreichte, dehnte sich über eine weite Fläche entlang des Flusses. Die Werksmauer war fast überall von mehrstöckigen Siedlungshäusern umgeben. Tilo entstieg der Straßenbahn vor dem Haupteingang des Werks.
Gerade war Frühstückszeit. Leute in Arbeitskleidung und Hausfrauen kauften im Lebensmittelkonsum ein oder standen, in Gespräche vertieft, auf der Straße. Tilo überquerte einen Platz und ging ins Personalbüro, ein zweistöckiges Fachwerkhaus. Dort klappte die junge Werksfotografin ein Nummernschild vor seinen Oberkörper und bedeutete ihm mit einem Lächeln, dass er ein freundlicheres Gesicht machen möge. Sie wollte wohl, dass ihre Passbilder wie die anderer Fotografen aussehen sollten, mochte aber nicht »Bitte lächeln!« zu einem künftigen Kollegen sagen. Tilo hatte sich seine neue Arbeit nicht so recht aussuchen können, deshalb lächelte er nicht.
Dann fuhr er mit einem Bus ins Werk hinein, irrte im Gewirr der Rohrstränge, Schornsteine, Kühltürme, Hallen und Behälter umher, fragte sich zu der ihm genannten Bau-Nummer durch. Dort war er schon angekündigt und wurde von Moritz, einem jungen Ingenieur, begrüßt. Ein bisschen Forschung, erklärte ihm dieser, sollte Tilo hier betreiben: Verfahrenspflege, Investitionsvorbereitung, Verbesserung der Qualitätssicherungsverfahren, Beziehungen zu Partnereinrichtungen, Literatursichtung und so weiter. Aber zuerst wollte er ihm einmal ihren Betrieb zeigen. Der war ein mehrstöckiger Zweckbau aus zerfressenen Backsteinen, umgeben von rostigen Stahlkonstruktionen und einem dichten Geflecht aus Rohrleitungen, die knackend und zischend dünnen weißen Dampf abgaben. In einem Nebenbau aus Beton-Fertigteilen das Labor und die Verwaltungsräume, im Aufenthaltsraum ein Anschauungsmodell der Produktionsanlage. Tilo folgte aufmerksam dem Finger des Ingenieurs, der in rascher Folge auf buntlackierte und säuberlich beschriftete Teile zeigte.
Der Absolvent versuchte sich möglichst viele Einzelheiten einzuprägen. Im Produktionstrakt mussten sie davon Abstand nehmen, eine Stahltreppe hinaufzusteigen, da diese fast völlig von zähflüssigem, übelriechendem Schlamm bedeckt war, was aber sonst niemanden zu stören schien. Noch auf dem Weg zum Bahnhof haftete der Schlamm an Tilos Sandalen. Bis sich etwas anderes fände, würde er in einem der modernen Arbeiterwohnheime untergebracht werden. So hatte es der Kadersachbearbeiter gesagt und so berichtete es auch Tilo dem Ingenieur Moritz. Worauf dieser ihn sofort zum Bahnhof schickte, damit er noch heute in dieses Wohnheim einziehen könnte.
Dies also war sein erster Arbeitstag, dachte er im Zug und war ein wenig enttäuscht. Tilo fuhr in die Neubaustadt und suchte die angegebene Adresse. Eine Weile stand er vor der Pförtnerloge herum, bis die Formulare ausgefüllt waren und er mit Schlüssel und Bettwäsche ausgestattet wurde. Mit einem der Fahrstühle fuhr er in die fünfzehnte Etage, wo er seinem Zimmerkollegen die Hand schüttelte und das Bett bezog ...