Odinshühnchen

 

Als der junge Gott am zeitigen Vormittag aus dem Flieger stieg, hatte es zu regnen begonnen. An der Passkontrolle überprüfte ein Beamter gründlich sein Ersatzdokument, wünschte ihm dann einen angenehmen Aufenthalt. Auf seinen Rollkoffer brauchte er auch nicht lange zu warten, betrat als einer der ersten Fluggäste die Ankunftshalle.

 

„Odin!“ hallte da der Ruf einer weiblichen Stimme aus der Menge der Wartenden. Die Wölfin nun wieder! Schon wussten mehrere Dutzend Menschen von seiner Ankunft. Das Wolfsmädel Freki im luftigen blauen Sommerkleid hüpfte ekstatisch und winkte ihm mit beiden Armen. Vorsichtig bewegte Odin sich durch die Wartenden auf seine alte Freundin zu, die ihn regelrecht ansprang. Sie hing ihm am Hals, winkelte die Knie an, ihre Lippen suchten die seinen. Beinahe förmlich küsste Odin sie auf beide Wangen, stellte sie dann wieder auf ihre Füße.

 

„Gut siehst du aus!“, stellte er anerkennend fest.

 

„Jung siehst du aus!“, antwortete Freki, „Das hat mich jetzt fast ein wenig von den Socken gehauen.“

 

„Hattest du einen alten, einäugigen Zausel erwartet?“, fragte der junge Gott und erläuterte, dass er in den vergangenen Jahren in der Obstplantage eines griechischen Klosterguts gearbeitet hätte, vor allem bei der Herstellung eines in der halben Ägäis beliebten Erfrischungsgetränks. Aus den Pressrückständen der Äpfel gewann er in seiner Freizeit einen Wirkstoff, der dem der goldenen Äpfel der Iduna entsprach, dem Quell ewiger Götterjugend. Auf dem Weg zur Haltestelle der Regionalbahn erläuterte er, dass sein Mittel, konzentriert angewandt, sogar längst abgestorbene Organe wieder zum Leben erwecken könnte.

 

„Deine Leber?“, fragte sie mutwillig.

 

„Ich meinte eher das Auge“, befand er, „es ist zwar noch etwas kurzsichtig, aber äußerlich ist es schon völlig unauffällig.“

 

„Macht es Dir etwas aus, wenn wir im Regen auf die Bahn warten?“, fragte die Wölfin und blieb kurz vor dem überdachten Abschnitt des Bahnsteigs stehen.

 

„Kein Problem“, meinte Odin und ließ die Tropfen über sein Gesicht rinnen. Nach einigen Minuten kam Freki ihm wieder auffällig nahe, sie gab spitze Laute von sich, schlang ihr linkes Bein um ihn und krallte sich mit beiden Händen in seinen blondgelockten Haarschopf.

 

„Gibs ihr, Odin!“, rief ein Jugendlicher aus einer Gruppe Wartender heraus.

 

Zum Glück kam gerade die Regionalbahn. Der Zug war unerwartet kurz und hielt ganz am Ende des Bahnsteigs, so dass Wölfin und Gott noch einen Sprint einlegen mussten, um die Bahn überhaupt noch zu erreichen. Sitzplätze gab es auch keine mehr, dafür mehrere Baustellen, die die Bahn bald zum Halten auf freier Strecke zwangen.

 

„Das mit Geri tut mir ja unendlich leid“, sagte Odin unvermittelt. Freki zuckte zusammen und erklärte, dass sie schon eine Spur hätte, heute Nachmittag könnten sie sich einige Verdächtige näher besehen. Odin nickte, wegen des grausamen Mordes an seinem alten Freund Geri sei er ja hier und weil die Polizei dabei so völlig versagt hätte.

 

Endlich fuhr die Bahn im Hauptbahnhof der alten Universitätsstadt ein, wo auch heftig gebaut wurde. Auf engen Irrwegen erreichten sie den Bahnhofsvorplatz, gingen weiter in Richtung Innenstadt. Bei einem Fotografen ließ der junge Gott mehrere Passfotos anfertigen, nahm auf einem Hocker Platz und lächelte huldvoll.

 

„Nicht lächeln!“, forderte der Fotograf, die Aufnahmen müssten schließlich biometrischen Anforderungen genügen.

 

„Auch nicht schmollen“, meinte Freki, trat hinter ihn und rückte seine Gesichtszüge mit eigenen Händen zurecht. So kam es, dass der heimkehrende Gott mit einem Gesichtsausdruck abgelichtet wurde, der kaum anders als blöd zu bezeichnen war.

 

Odin zahlte, auf die Bilder konnten sie gleich warten. Draußen kauften sie bei einem Straßenhändler Eiswaffeln, strebten dann dem Immatrikulationsamt der Universität zu. Freki hatte ihr Eis sofort verschlungen, während es Odin nicht zu schmecken schien. ...